Die Entdeckung des ganz neuen Europa
22. Octobre 2004
Eindrücke einer Reise quer durch die Baltikstaaten
Artikel von Roby Fleischhauer, erschienen im "tageblatt"
Gdansk: Hier begann die Unabhängigkeit der Polen

| Von Berlin aus fahren wir (eine Reisegesellschaft der FGIL der “Fédération Générale des Instituteurs du Luxembourg”) ohne Probleme hinein nach Polen und lernen ein sympathisches Land kennen, dessen tragische Geschicht wohl einmalig ist: Die Begehrlichkeit der Nachbarn hat dieses Land während Jahrhunderten gebeutelt. Stolz erzählt der Reiseführer von der Streikbewegung von Solidarnosc unter Lech Walesa in Danzig, die schliesslich die Unabhängigkeit Polens vom Sowjetsystem gebracht hat. Wir fahren später an seiner Wohnung vorbei. Er ist immer noch “der Präsident”. Namen wie Auschwitz, Majdanek, Treblinka, Warschau, Zahlen wie 6 Millionen tote Polen im letzten Krieg, davon 3 Millionen Juden streichen über die Köpfe der Reisegesellschaft hinweg und versickern zusammen mit den Angaben über die Grösse des Landes, der Einwohnerzahlen und die oekonomischen Aktivitäten zwischen den Sitzreihen. Ueberall im Land wie auch in den drei anderen baltischen Republiken erinnern hässliche, graue Wohnkisten an die lange Sowjetherrschaft. |
Die Altstadt der früheren Hansestadt Danzig ist wunderbar restauriert und voller Leben. Die Fassaden in der Langestrasse z.b. sind überwältigend. Dabei war Danzig nach dem Krieg zu 90% zerstört! Gdansk (die Polen sagen “Gdainsk”) mit den beiden andern Städten der “Dreistadt” Gdynia und Sopot, dem alten Badeort an der Ostsee muss man gesehen haben. .
Unverkennbar ist, dass man sich in einem durch und durch katholischen Land befindet. Es stehen viele (sehenswerte) Kirchen auf dem Besucherprogramm. Das Konzert in der Marienkirche auf einer Orgel mit 7.000 Pfeifen ist beeindruckend. Vor dem Konzert beten jedoch alle Touristen gemeinsam das “Vaterunser”
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Grenzschikanen

| Kaliningrad, das frühere preussische Königsberg ist das nächste Ziel. Kaliningrad ist der Finger Moskaus mitten im neuen Europa, die russische Insel, die den Weg zu den nächsten baltischen Staaten unterbricht. Die Kaliningrader hoffen inständig auf eine Lösung ihrer Situation mitten in Europa. Es sollte wenn möglich eine Europäische sein. Drei Stunden dauert es, bis wir die Grenze passiert haben. Beim ersten Posten ist kein Grenzkontrolleur zu sehen. Auf der anderen Seite schieben die Polen schrittweise ihre Wagen von Russland nach Polen, voll beladen mit Benzinkanistern. Das Benzin ist viel billiger in Russland. Wie man uns berichtet, tun die Polen dies bis zu dreimal am Tage, um dann das billige Benzin zu Hause zu verhökern. Es dauert eine Stunde, bis sich jemand bequemt, uns weiterfahren zu lassen. Nun geht es erst richtig los: Wir müssen alle aussteigen und werden einzeln kontrolliert und dann wieder in den Bus gejagt. Dort ist es stickig heiss und einige verlassen den Bus, um Luft zu schnappen. Das war ein Fehler. Einer der Grenzer zwingt den Fahrer, eine ganze Liste neu zu schreiben, weil er angeblich ein paar Buchstaben nicht lesen konnte zur Strafe, weil einige Passagiere ausgestiegen waren. |
Dann wird der Fahrer mit seinen Papieren begleitet von der Uebersetzerin im Dreieck über das Kontrollgelände von einer Dienststelle zur nächsten gejagt. Endlich nach drei Stunden dürfen wir fahren. Anscheinend hatte man die Passkontrolleure angewiesen, von jetzt ab bei den Kontrollen zu lächeln. Das taten sie denn auch auf unterschiedliche Weise. Die Zöllner hatten diese Anweisung nicht erhalten. Ihre Mienen erinnerten an Sowjetzeiten. In Kaliningrad sprach man dann von “notwendiger Förderung des Tourismus”! Eine verquere Logik!
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Chruschtschows Rache.
Die Kaliningrader Reiseleiterin nimmt das System mit Humor, so wie alle, die dort wohnen. In Kaliningrad regnet es in Strömen. Das Wasser steht metertief in den Strassen. Im chaotischen Sechsuhrverkehr steigen riesige Fontänen hoch. Es sind die berühmten “Königsberger Springbrunnen”, wie sie unsere Stadtführerin nennt. Junge Damen mit sehr kurzen Röckchen und endlosen, schlanken Beinen in offenen Stöckelschuhen trippeln durch die Flut. Koenigsberg, die ehemalig reiche Stadt wurde im Krieg fast vollständig zerstört. Das meiste wurde nicht mehr aufgebaut. Die Sowjets wollten nichts Deutsches mehr sehen. Auch das berühmte Königsberger Schloss fehlt. An seine Stelle hatten die Sowjets vor über 20 Jahren einen riesigen Betonklotz für den Stadtsowjet errichtet. Der Klotz steht jetzt als riesige hässliche Ruine, aus dem Gesträuch wächst mitten in der Stadt. Niemand weiss, was man damit anfangen könnte. Lenin lässt überall noch grüssen. Aber Kant lebte hier und wurde am Dom begraben. Sein Wirken wird gebührend hervorgestrichen. Wir besuchen eines der wenigen erhaltenen Bauwerke aus dem alten Königsberg, nämlich den Dom. Das grosse Schiff wird eben renoviert. Im vorderen Teil haben drei Religionen ihren Platz gefunden Hier praktizieren einträchtig nebeneinander in verschiedenen Räumen die Russisch-Orthodoxen, die Lutherischen und die Katholiken. Bei der Stadtrundfahrt fallen uns auch wieder die schrecklichen russischen Plattenbauten auf, welche in den Fünfzigern gebaut wurden und zwar immer nach demselben Schema. Hauptnachteil: Die Küchen haben keine Fenster! Diese Plattenbauten heissen im Volksmund: “Chruschtschows Rache”. Bekanntlich war dieser ja 1964 entmachtet worde. Man hält auch wenig von der politischen Führungsmannschaft in Kaliningrad. Gouverneur ist ein ehemaliger Admiral, der angeblich wenig Ahnung von Verwaltung hat. Man nennt ihn den “Hochzeitsgeneral”, weil er als Ehrengast ständig zu Hochzeiten eingeladen wird. Bei “Koenigsberg” fallen einem auch die “Klopse” ein. Die Haushaltsschule für junge Mädchen nennt man denn auch “Klopsakademie”.
Nur zwei Stunden dauert es diesmal an der Grenze ehe Russland uns nach Litauen weiterfahren lässt.
Litauen, eine wechselvolle Geschichte.

| Kompletter Szenenwechsel: Viel Grün in den Dörfern, eine herrliche Landschaft ,schöne Neubauten, die man sich auch in Luxemburg vorstellen kann. Vilnius überrascht durch sehr moderne Gebäude und eine stimmungsvoll renovierten Altstadt in der sich auch die Universität befindet. Unser Stadtführer ist ein sehr gläubiger Katholik wie 92% der Litauer. Russen, Polen, Ukrainer leben hier. Die offizielle Sprache ist Litauisch. Sie wird bruchstückhaft von den Letten verstanden aber gar nicht von den Estländern. |
Es gibt jedoch Schulen für jede Minorität. Im Jahre 2003 wurde der 750te Jubiläum der Entstehung der Stadt gefeiert. Auch hier wieder die Tragik der Kriegsjahre. Litauen, genau wie Polen, Lettland und Estland wurden durch den Pakt zwischen Hitler und Stalin den Sowjets zugesprochen und dann von den Nazis überrannt. In Vilnius, dem damaligen “Jerusalem des Nordens” lebten 70.000 Juden. 800 blieben nach Ghetto und KZ übrg. Man beabsichtigt, das Judenviertel wieder aufzurichten. In der barocken mit Stuck fast überladenen Peter-und Paulkirche, erzählt der Fremdenführer, wie er als Junge zusehen musste, als seine Eltern von russischen Soldaten misshandelt wurden.Um der Religion entgegenzuwirken, hatten die Sowjets sogar eine “Kirche des Atheismus” eingerichtet.
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| Unbedingt besuchen muss man in der Umgebung die malerisch gelegene Insel Trakai mit ihrer Burg und das Versaille-ähnliche Schloss Rundai. |
Wer Jugendstil liebt, sollte nach Riga fahren.

| Riga, die Hauptstadt von Lettland ist die Stadt des Nordens mit den meisten Jugendstilfassaden. Da wir daran interessiert sind, treibt uns die Fremdenführerein 7 Stunden lang zu Fuss durch die Stadt. Die Fassaden sind sehr interessant, einige vollständig überladen. Diese Bürgerhäuser wurden Ende des 19ten Jahrhunderts gebaut und sind Zeugen des Wohlstandes der Kaufleute dieser Zeit. Sehr viele sind unbewohnt und stehen zum Verkauf an Viele müssten restauriert werden, aber das Geld fehlt. Am schönsten sind die restaurierten Prachtbauten, bei denen in der Fassade die Details durch ein diskretes Farbenspiel hervorgehoben wurden. Die Altstadt ist einfach herrlich, richtig anheimelnd und voller Leben. Musik und Theater überall. |
Die Breite der Gassen wurde so bemessen, dass zumindest zwei Damen in ihren Krinolinen aneinander vorbeigehen konnten. Mit einer elektrischen Trambahn aus dem Jahre 1902 rumpeln und quietschen wir schliesslich durch die Stadt. Riga ist auch eine Park-und Gartenstadt. Es gibt im Zentrum und in der Umgebung nicht weniger, als 140 Parkanlagen.
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| Doch Probleme gibt es auch hier. Und sie haben wieder mit der russischen Vergangenheit vor 1991 zu tun. 37% der Bevölkerung sind Russen, die seit Jahrzehnten in Lettland leben und auch lettisch sprechen. Ihre Kinder besuchen jedoch zumeist russische Schulen. Es gibt jetzt nationalistische Bestrebungen, alles was russisch ist verschwinden zu lassen, was wiederum auf Widerstand stösst. So ist für den kommenden Herbst ein regelrechter Schulkrieg im Bezug auf die russischen Schulen angesagt. |
Die Sängerrevolution der Esten
Ganz anders Tallin, die Hauptstadt von Estland. Estland mutet schon ganz finnisch an. Auch die Sprache ähnelt dem Finnischen weitgehend. Als Nachbar von Finnland, war die Republik auch zu Sowjetzeiten mehr als die anderen baltischen Staaten nach dem Westen ausgerichtet. Die Lettländer beschreiben die Esten als ein sehr bedächtiges Volk. Der Mensch besteht ja bekanntlich zu 70% aus Wasser, bei den Esten handele es sich dabei um Bremsflüssigkeit. “Stopp” wird in Estland auch mit 2 p geschrieben, da die Esten angeblich etwas länger bräuchten um stehen zu bleiben. Auch hier erinnert man sich nur ungern an die Sowjetzeit. Nach dem Krieg wurden massenhaft Einwohner nach Sibirien verschleppt. vor allem Intellektuelle und Bauern, die dem Kolchose-System im Wege standen. Im Jahre 1988 fand dann die “Sängerrevolution” statt. Ein Sängerfest gestaltete sich zur machtvollen Demonstration des Willens zur Unanbhängigkeit, die dann 1991 gewährt wurde. Der Gesang bleibt in Estland Thema Nummer 1. Alle 5 Jahre findet auf einem riesigen Gelände in Tallin der Sängerwettstreit statt, ein Weltereignis, an dem an die 20.000 Choristen teilnehmen und auch gemeinsame Konzerte geben.

| Tallin selber ist eine grosse Festung. Die Umgehungsmauer ist 4 Kilometer lang und hat 46 Türme. Nach Carcassonne ist es die zweitgrösste noch erhaltene Festung Europas und gehört zum Weltkulturerbe der Unesco. Die Stadt ist wirklich sehenswert.
Das Land selber erfreut die Touristen durch seine vielen Schlösser und durch unberührte Natur. 48% des Landes sind von Wäldern bedeckt. Die Holzindustrie spielt eine grosse Rolle und die Esten werden oft als Waldmenschen bezeichnet. |
Die preussische Vergangenheit lebt auf beim Besuch des restaurierten früheren Ritterguts Palmse, das damals der Familie von Pahlen gehörte. Die deutschen Rittergutsbesitzer waren über 700 Jahre praesent im Land. Die 5% Deutschen besassen das Land, die Esten waren die Leibeigenen dieser Herren.
Wenn auch die Wirtschaft in der kurzen Zeit der Unabhängigkeit einen grossen Sprung nach vorn gemacht hat, so hat sich das noch nicht auf die Lebensverhältnisse der einzelnen Bürger ausgewirkt. Der duchschnittliche Verdienst liegt so bei 400-500 Euro brutto pro Monat. 8% verdienen mehr als 2.000 Euro. Davon muss man dann 26% an Abgaben abziehen.. Durch die “gelbe Karte” wurde jeder Besitzer einer früheren Russenwohnung. Diese sind jetzt 50 Jahre alt und sehr renovierungsbedürftig, wofür natürlich niemand die benötigten Mittel hat. Ein Rentner erhält rund 140 Euro im Monat. Der Staat hilft, wenn er damit nicht auskommt. Auf dem Land ist die Arbeitslosigkeit sehr hoch. Alle früheren Russenfabriken wurden nämlich geschlossen.
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Wir setzen mit der Fähre hinüber nach Helsinki. Von dort aus geht es dann per Fährschiff (Superfast Vll) hinunter nach Rostock und von dort aus zurück zu dem reichen Teil Europas, nämlich Luxemburg.